Aufreger Sprachwandel

Als Gabriele Diewald noch über grammatische Kategorien forschte, interessierte sich kaum jemand für sie. Nachdem sie jedoch die erste Duden-Publikation zur geschlechtergerechten Sprache veröffentlicht hatte, war der Medienrummel groß – und die Kritik. Ein Gespräch über die Wirren einer komplexen Debatte 

Ein Interview von Jeanne Wellnitz

Dieses Interview erschien zuerst im Kompendium Gendersensible Sprache, das 2020 vom BdKom herausgegeben wurde.

Frau Diewald, worüber streiten wir eigentlich, wenn wir über gendersensible Sprache sprechen?
Es dominieren zwei Überzeugungen im Patriarchat. Die erste lautet: Es gibt zwei natürliche Geschlechter, ein drittes ist nicht gegeben und wird sprachlich nicht repräsentiert. Die zweite Überzeugung lautet: Es gibt ein starkes und ein schwaches Geschlecht. Das binäre Geschlechterverhältnis wurde also hierarchisiert. Die Linguistinnen Luise Pusch und Senta Trömel-Plötz kritisierten in den späten Siebzigerjahren öffentlich die dem Deutschen innewohnende männliche Struktur. Sie sind damit zwar berühmt geworden, ihr Engagement kostete sie jedoch in Deutschland ihre universitäre Karriere.

Die beiden habilitierten Linguistinnen gelten als Begründerinnen der feministischen Sprachkritik, die von einigen als unwissenschaftliche Disziplin verunglimpft wird.
Der Schlagabtausch wurde in der Sprachwissenschaft nicht zimperlich geführt. Dennoch sind in den späten Achtzigerjahren die Forderungen in institutionalisierte Richtlinien geflossen, wie die UNESCO-Richtlinie Eine Sprache für beide Geschlechter oder der Bericht des Bundestages Maskuline und feminine Personenbezeichnungen in der Rechtssprache. In vielen Bundesländern wurden Empfehlungen für geschlechtergerechte Verwaltungssprache herausgegeben. Oft wird behauptet, die Debatte würde erst jetzt aufflammen, aber der Diskurs existiert bereits seit fünfzig Jahren. Relativ neu hingegen ist die Wahrnehmung von nichtbinärer Geschlechteridentität durch das neue Personenstandsgesetz.

Das Personenstandsgesetz wurde 2018 geändert und ermöglicht nun den Eintrag „divers“ im Geburtenregister. Seitdem ist die Debatte um eine angemessene Sprache wieder hochgekocht. Weshalb erregt das Gendern die Gemüter?

Die Veränderungen in der Geschlechterordnung der vergangenen Jahrzehnte sind enorm. Das schürt Ängste. Diese Ängste verbinden sich dann häufig mit der Kritik an geschlechter­gerechter Sprache: Der Vorwurf lautet, auf diese Weise zu kommunizieren würde nur Unheil stiften und ändere nichts an den Umständen. Dass die Debatte aktuell wieder derart geführt wird, hat auch damit zu tun, dass gegenwärtig alle in Echtzeit zu allem etwas sagen können. Die heftigsten Reaktionen kommen dabei, politisch betrachtet, meist von rechts. Generell war Sprachwandel aber schon immer ein Aufreger.

Gibt es eine vergleichbare Situation wie diese in der Sprachgeschichte?
Gesellschaftlicher Wandel schlägt sich immer in der Sprache nieder wie es bei politischen und sozialen Umstürzen und Sprachwechseln – wie der Normannischen Eroberung Englands – der Fall war. Es gibt jedoch zu wenig hinreichend dokumentierte Diskurse darüber. Die Menschen haben sich aber schon immer Gedanken darübergemacht, wie sie ihre Sprache verwenden.

Eines der Hauptargumente von Gegnerinnen und Gegnern lautet, gendergerechte Sprache komme einer Sprachzensur gleich. Was würden Sie ihnen entgegnen?
Ich stelle meinem Gegenüber immer gern die Frage: „Wurden Sie denn schon einmal sprachlich zensiert?“ Die meisten können das nicht bejahen. Im persönlichen Sprachgebrauch wird nämlich niemand gemaßregelt. Gendersensibilität hat sich nun einmal an vielen Stellen auf vielfältige Weise durchgesetzt. Es ist ein gesellschaftlicher Wandel, der nach Ausdruck verlangt. Und aktuell wird ausgehandelt, wie diese Ausdrucksformen aussehen können.

Was bedeutet das für Unternehmen?
Sie müssen sich die Frage stellen, wie sie mit Themen umgehen möchten, die gesellschaftlich relevant sind. Nahezu jedes Unternehmen hat Vorgaben zum Corporate Design und zur Corporate Identity, nach denen sich die Belegschaft richtet. Wenn darunter auch die diskriminierungsfreie Anrede von Personen fiele, wäre das ziemlich zeitgemäß.

Menschen, die gendersensibel kommunizieren, wird oft unterstellt, sie würden fälschlicherweise das grammatische Geschlecht (Genus) mit dem biologischen (Sexus) gleichsetzen. Was halten Sie davon?
Das ist eine geradezu absurde Unterstellung, denn natürlich hat grammatisches Genus – wie der Stuhl, die Bank oder das Sofa – nichts mit der Bedeutung von Personenbezeichnungen oder gar dem biologischen Geschlecht zu tun. Man kann von einem Mann namens Hans-Peter durchaus sagen: „Er ist ein echtes Waschweib“ – auch wenn das nicht sehr nett ist. An diesem Satz erkennt man, dass ihm drei voneinander unabhängige Schichten innewohnen. Erstens: das biologische Geschlecht, also die männliche Person namens Hans-Peter, auf die referiert wird. Zweitens: die Bedeutung des Substantivs Weib als eine „erwachsene, weibliche Person“, das semantische Geschlecht. Drittens: das grammatische Genus des Substantivs Weib, hier Neutrum „das“. Bei Personenbezeichnungen besteht hingegen oft – aber nicht immer – eine Korrelation zwischen dem grammatischen Genus und dem semantischen Geschlecht wie bei die Frau, die Schwester, die Tante versus der Mann, der Bruder, der Onkel. Gendersensible Kommunikation achtet demzufolge einfach darauf, dass die Menschen, die gemeint sind, auch explizit angesprochen werden.

Sie sind Co-Autorin zweier Duden-Ratgeber zum Thema gendergerechte Sprache. Dafür mussten Sie viel Kritik einstecken. Was war da los?
Es gab einen enormen Shitstorm auf der Webseite zum Buch beim Onlineversandhändler Amazon. Der Vorwurf lautete, der Duden – die Norminstanz, der man immer alles geglaubt habe –, sei der deutschen Grammatik abtrünnig geworden. Auf der einen Seite wird von den Kritikern und Kritikerinnen eine Autorität gewünscht, die Sprachregeln festlegt. Wenn die Regeln jedoch in eine Richtung gehen, die ihnen nicht gefällt, heißt es auf der anderen Seite: „Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir sprechen sollen.“

Wie sind Sie mit den Hasskommentaren umgegangen?
Ich war erschrocken über das Niveau der kollektiven Häme. Bis ich verstanden habe, dass diese Vorschläge, die Bücher zu verbrennen oder als Klopapier zu benutzen, stellvertretend für eine politische Haltung stehen. Grundsätzlich sehe ich jedoch, dass das Bewusstsein für faire Sprache bei vielen Menschen vorhanden ist. Und ich habe mich mit dem Kollegen Peter Eisenberg öffentlich ein paar Mal gestritten, das war ganz unterhaltsam.

Lassen Sie mich raten: über das sogenannte generische Maskulinum?
Ja. Er als traditioneller Linguist verteidigt es natürlich. Eisenberg sagt, das sogenannte generische Maskulinum sei neutral wie beispielsweise das Nomen Bäcker. Es stamme vom Verb backen ab und bezeichnet damit eine Person, die dieses Handwerk ausführt. Und das Wort „Personen“ schließe alle Geschlechter ein. Diese Logik ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Eisenberg war einflussreich durch die Grammatik, die er in den Achtzigerjahren geschrieben hat, und diese Sicht der Dinge war vielen natürlich sehr recht, um den Status quo zu wahren. Die Slawistin Ursula Doleschal hat jedoch historische Grammatiken untersucht und herausgefunden, dass sich sämtliche Grammatiker in der Geschichte völlig darüber im Klaren waren, dass das eine männliche Form und keine neutrale sei. Das heißt, sie haben sich bewusst gegen die weibliche Entsprechung entschieden.

Muss das sogenannte generische Maskulinum also zugunsten des Genderns aufgegeben werden?
Es müssten nur einige Gewohnheiten geändert werden. Viele denken, beim sogenannten generischen Maskulinum handele sich um eine grammatische Kategorie, weil dieser Begriff das irgendwie suggeriert. So wie es einen Plural oder einen Dativ gibt. Aber das stimmt nicht, es ist lediglich zur Gewohnheit geworden, diese Form zu verwenden. Die Aufforderung dazu lautet: Wenn du alle Personen meinst, nimm die Maskulinform!

Ihrer Argumentation folgend ist das Adjektiv „generisch“ eigentlich völlig unzutreffend.

Ganz genau, ich spreche auch eher vom angeblich geschlechtsübergreifend verwendeten Maskulinum oder Maskulinformen zur Bezeichnung aller. Wenn sich ein Begriff etabliert hat, wird man ihn schwer wieder los. Hinzu kommt, dass die Duden-Grammatik das auch lange so gehandhabt hat.

Es gibt einige Frauen, die sagen: „Ich fühle mich mitgemeint, ich brauche das Gendern nicht.“

Das ist ein bekanntes Phänomen, das auftritt, wenn sich Gruppen emanzipieren wollen. Es setzen sich immer Teile der Gesellschaft von der Bewegung ab und sehen kein Problem. Man könnte ihnen auch „Identifikation mit dem Aggressor“ unterstellen. Sie stellen sich auf die Seite der Privilegierten oder sie sind einfach privilegiert. Viele meiner jungen Kolleginnen empfinden Überdruss, was die Gender­debatte betrifft. Das verstehe ich auch. Wenn sie mit mir diskutieren, entgegne ich ihnen jedoch: „Umso besser, wenn du dich ohnehin mit gemeint fühlst. Aber fühlst du dich denn weniger gemeint, wenn Frauen und andere explizit mit angesprochen werden?“

Ihre Kolleginnen könnten einwenden, dass Sprachwandel der Sprachökonomie folge, dass also alle Sprechenden mit möglich wenig sprachlichen Mitteln möglichst viel ausdrücken wollen. Läuft Gendern dem zuwider?
Sprachwandel existiert in der Wechselwirkung zweier Kräfte: des Sparsamkeitstriebs und des Deutlichkeitstriebs. Hochfrequente, also häufig verwendete Wörter, die oft an bestimmten Positionen stehen, schwächen sich ab, weil sie vorhersehbar für uns sind, so wie bei „Tach“ für „Guten Tag“. Das ist eine Verschleißerscheinung beim alltäglichen Sprechen, um Energie zu sparen. Wenn wir jedoch etwas verfassen oder etwas sagen, das uns wichtig ist, sparen wir nicht. Ökonomie ist also die eine Sache, Deutlichkeit eine andere. Beide Phänomene lassen sich nur schwer getrennt voneinander beobachten ...
 
... wie am Genitiv zu sehen ist.

Genau, Flexionsformen – also insbesondere das Genitiv­-S – schwinden häufig durch längere Formen wie „das Buch von Gabriele Diewald“ statt „Gabriele Diewalds Buch“. Und auch Konjunktivformen wie büke oder schwömme wurden durch das praktische Muster „würde plus Infinitiv“ ersetzt. Das ist kognitiv ökonomisch, im Schriftbild, bezogen auf die Zeichenzahl, jedoch nicht.

Wie sprachökonomisch ist Gendern?
Das sogenannte generische Maskulinum ermöglicht zwar eine Ökonomie auf der Produktionsseite, aber eine höhere Last auf der Rezeptionsseite. Wenn ich alle Personen ansprechen und auch eine bestimmte geistige Haltung transportieren möchte, dann ist Gendern ökonomisch, insofern, als es präzise ist. Die Rezipientinnen müssen dann nicht entscheiden, ob sie mit gemeint sind oder nicht.

Eine Lösung, fair zu kommunizieren, besteht darin, Partizipialkonstruktionen zu verwenden, also Mitarbeitende zu sagen statt Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ihr Kollege Peter Eisenberg sagt, diese dürften nicht als Rollenbezeichnung verwendet werden, weil sie immer nur kurzfristige, vorübergehende Tätigkeiten bezeichnen.
Das stimmt so nicht ganz. Es gibt zahlreiche Partizipien, die dauerhafte Zustände, Eigenschaften oder Rollen der bezeichneten Menschen benennen: zum Beispiel sind Arbeitssuchende nicht nur dann arbeitssuchend, wenn sie sich tatsächlich um eine Arbeit bemühen, indem sie Jobangebote lesen oder Bewerbungen schreiben, sondern auch dann, wenn sie gerade spazieren gehen. Gleiches gilt für Auszubildende, Alleinerziehende oder Reisende. Man sollte diese Neutralisierungsformen jedoch intelligent einsetzen für den kommunikativen Zweck, den man verfolgt.

Was halten Sie von der Entscheidung des Rechtschreibrats, den Genderstern nicht in das
Amtliche Regelwerk aufzunehmen?
Wir befinden uns mitten im erlebten Sprach­wandel, Normen werden hinterfragt und Alternativen ausgelotet. Das braucht Zeit. Deswegen verstehe ich auch, dass die Mitglieder des Rechtschreibrats die Sonderformen noch länger beobachten möchten, bis sie eine Empfehlung aussprechen.

Gabriele Diewald

ist Professorin für Germanistische Linguistik an der Leibniz Universität Hannover und forscht über den Wandel der Sprache. Die aktuellen Veränderungen der Sprache bei Personenbezeichnungen sind ein Zeichen für akuten Sprachwandel und deshalb linguistisch für sie hochgradig interessant. Gabriele Diewald veröffentlichte gemeinsam mit der promovierten Philologin Anja Steinhauer zwei Duden-Ratgeber über gendergerechte Sprache.


Jeanne Wellnitz im Interview mit Gabriele Diewald.